Eine Frau, die sich selbst treu geblieben ist
Bad Nauheim (hkr). Die Zeitgenossen kamen an Johann Wolfgang von Goethe nicht vorbei. Gedenken wir heute jedoch bevorzugt der Ikone der klassischen Literatur, die zusammen mit Friedrich Schiller die deutsche Literatur zu ungeahnten Höhen gebracht hat und dessen Werke von »Werther« bis »Faust« zum Kanon des Bildungsbürger-
tums wurden, so mussten sich die Menschen seiner Zeit nicht selten mit dem Geheimrat Goethe plagen. Gemeint sind dabei nicht nur die jungen Frauen, die Goethe bis ins hohe Alter zu umgarnen wusste, oder die Höflinge in Weimar, denen nicht selten der Bürger

Goethe die Leviten las. Fast schon vergessen sind jene Mit-menschen Goethes, die Eingang in sein Werk gefunden haben als Charaktere oder Vorbilder. Eine von ihnen, der die Bad Nauheimer Schauspielerin Gertrud Gilbert ein eignes Stück gewidmet hat, ist Charlotte Kestner, jene Lotte aus Wetzlar, die im »Werther«-Roman zum Sinnbild unglücklicher Liebe wird.
Inzwischen ist Lotte älter geworden. Das Stück »Mit mir nicht noch einmal, Herr Goethe« verlegt die Handlung in ein Gasthaus in der Nähe von Weimar im Jahr 1816. Lotte, inzwischen 63 Jahre alt und Mutter von zwölf Kindern, hat soeben einen Besuch beim Geheimrat Goethe hinter sich. Das Stück, letztes Jahr in Weimar erfolgreich uraufgeführt, ist ein Monolog über die Begegnung mit dem großen Goethe, auf Einladung der Bürgerstiftung »Ein Herz für Bad Nauheim« im Spiegelsaal des Hotel Dolce am Kurpark aufgeführt. Gertrud Gilbert, die sich seit langen Jahren mit Frankfurt und Weimar zur Goethe-Zeit beschäftigt hat und nicht unwesentlich durch ihre »Wiederentdeckung« der Mutter von Goethe auch Letzteren immer wieder behandelt, wählt mit ihrem Stück einen neuen Ansatz, um den Mythos Goethe etwas zu entzaubern.
Der »Werther«, 1774 erschienen und Bestseller des Jahrhunderts, erzählt vom Unglück des einen, vergisst aber das Leid der anderen. Gertrud Gilbert gibt eine resolute Haus- und Ehefrau, die sich den Kabalen einer Charlotte von Stein entledigt hat und jetzt, allein im Gasthaus auf die Postkutsche nach Hannover wartend, sich der Jugend erinnert. Vom Bestseller hat sie nichts gehabt, der Erfolg blieb Goethe. Nicht frustriert, aber doch sentimental getroffen von ihrem Leben, ist sie noch immer von Goethe begeistert, aber mehr von ihrer schwärmerischen Liebe von einst als von dem »Weimarer Musenhof« mit dem elitären Künstlervolk und den selbstgerechten Herrschaften rund um den Fürsten.
Bürgerlich wie emanzipiert gibt sich Gilberts Lotte von 1816; sie ist eine Frau, die im Leben steht, die die napoleonischen Kriege genauso meistert wie ihren Haushalt. »Briefe, Brot und Windeln« bestimmen ihr Schicksal. Was sie erst noch als Bürde versteht, wird aus der Begegnung mit Goethe Selbstsicherheit und die Überzeugung, den richtigen Weg

gewählt zu haben. Sie räsoniert und romantisiert in einem Zug über die verpassten Chancen von damals. Goethe ist ein »alter Mann« und »zahnloser Poet« geworden, bei dem nur noch die frivolen Verse an das leidenschaftliche Ungestüm von früher erinnern. Natürlich ist Goethe charmant, artig und wortgewandt, jemand, der wirkt, wenn er den Raum betritt. Aber Lottes »Generalbeichte« über die Sonnenseiten der Häuslichkeit und das Schattendasein ohne den Ruhm des großen Deutschen ist eine Erklärung an den eigenen Stolz.
Das Stück von Gertrud Gilbert setzt die Stimmung der Zeit neu zusammen. Bei Gertrud Gilbert gilt noch die Devise, dass sie »ihr« Stück sich selbst auf den Leib geschrieben hat. Leidenschaftliche Ausbrüche und elegante Bonmots halten sich treu die Waage und rücken Gilbert und Lotte in ein neues Licht. Die treue, ehrliche und pflichtbewusste deutsche Seele nach Napoleon und vor dem Biedermeier wird zum ansehnlichen Gegenüber für das Schwergewicht Goethe.
Für die Zuschauer der Veranstaltung, die sich herzlich über die Lotte von heute amüsierten und ihre Abkehr vom Weimarer Musenhof miterleben konnten, war es sicherlich eine neue Erfahrung, Goethes Welt aus einer anderen Perspektive kennen zu lernen. Die ironischen Betrachtungen zwischen Sehnsucht und Abstand, Verbundenheit und Distanz mit und zu dem »jungen Gott« von einst und dem »Genius des Vaterlands« von heute haben ihren Reiz. Während Goethe, so sehen es Figur und Autorin, den unerfüllten Lieben unerreichbarer Musen nachjagt, ist Lotte sich selbst treu geblieben.